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Hochsensibilität ist eine unterschätzte Besonderheit

Von Brenda Strohmaier, welt.de

 

Hochsensibilität ist eine unterschätzte Besonderheit

 

Da ist nicht nur Handyklingeln und Straßenlärm zu viel: Hochsensible grübeln viel, weinen häufig und können sich gut in andere hineinversetzen. Spüren manche Menschen wirklich mehr als andere?

 

Bernhard wohnt in Berlin und organisiert eine Selbsthilfegruppe für Hochsensible. Mehr möchte er an dieser Stelle nicht über sich lesen. „Wenn gleich am Anfang das Alter und der Beruf stehen, da geht doch im Kopf sofort eine Schublade auf und wieder zu. Aber der Leser soll diesen Text doch wirklich spüren.“

 

Manchen sollte das leichterfallen als anderen. Glaubt man der kalifornischen Psychologin Elaine Aron, die das Thema Hochsensibilität in den USA und dann in Deutschland auf die Agenda setzte, nehmen 20 Prozent der Menschheit ihre Umwelt besonders intensiv wahr und denken besonders viel und tiefsinnig darüber nach. Das, so die Theorie, kann mit großen Vor- und Nachteilen einhergehen. Im Extrem mit einem besonders erfüllten, interessanten Leben – oder mit permanenter Reizüberflutung.

 

Nein, das ist kein Trend

 

Zu viel Gefühl – bei dem Gedanken fallen einigen Menschen vor allem Witze ein. Erst kürzlich scherzten Kollegen in einer „Welt“-Kolumne darüber, dass Hochsensibilität „eine Seuche“ sei. In der Tat kann man auf die Idee kommen, dass es sich um einen Lifestyle-Trend handelt, der gut zu anderen Phänomenen wie Achtsamkeitsratgebern und Meditationsworkshops passt. Und in unsere Zeit. Im Jahr 2015 werden auch härtere Kaliber von E-Mails, Handygedudel und iPad-Gedaddel derart überfordert, dass sie sich dünnhäutig fühlen wie Elfen.

 

Doch tatsächlich nehmen sehr viele Menschen das Thema Hochsensibilität sehr ernst. Volkshochschulen bieten Kurse an mit Titeln wie „Mit Hochsensibilität leben“ (VHS Herrenberg) oder „Hochsensible Kinder erkennen und verstehen“ (VHS Geldern). Auf Webseiten wie www.treffpunkt-hochsensibilität.de diskutieren Menschen Themen wie „Persönlicher Distanzbereich“ oder „Gerüche und Geräusche, die ich liebe“. Und von Kiel bis Freiburg finden sich Dutzende Treffs und Selbsthilfegruppen für hochsensible Personen, kurz HSP.

 

Gruppen wie die von Bernhard, die sich zwei Mal im Monat im Nachbarschaftszentrum Berlin-Neukölln zusammensetzt. An einem Dienstag im Februar sind sechs Frauen und zwei Männer gekommen, von Anfang 20 bis Mitte 60. Zunächst geht es darum, dass eine Teilnehmerin Veilchengeruch im Raum wahrnimmt, der von den Händen einer anderen Teilnehmerin herüberströmt. Später wird darüber geredet, wie es ist, mehr Ruhe zu brauchen als der Rest der Welt. Und wie erleichternd es war, andere zu finden, denen es auch so geht.

 

„Auf Partys knallvoll mit Eindrücken“

 

Eine Woche danach erzählt Bernhard in seiner Wohnung bei offenem Fenster und Verkehrsrauschen: „Ich bin nicht besonders geräusch- oder lichtempfindlich wie manch andere Hochsensible. Aber ich bekomme oft mehr davon mit, was in anderen Menschen vorgeht. Ich habe da besonders viele Tentakel. Ich spüre etwa bei jemandem, der wütend ist, auch die Verletzung, die dahinter liegt.“

 

In der Praxis heißt das: „Nach anderthalb, zwei Stunden auf einer Party bin ich knallvoll mit Eindrücken und erschöpft. Wenn ich dann gehe, wundern sich die anderen, die erst richtig aufdrehen.“ In der Praxis heißt das auch: Bernhard ist einer, der zuhören kann und will, der sich ehrenamtlich um andere kümmert. Unter anderen um Obdachlose und einen Mann, der so dick ist, dass er seine Füße nicht selbst pflegen kann.

 

Der Hochsensible als Hochbegabter

 

So sehr sich Hochsensible in den Ratgebern erkennen, so wenig setzt sich die Idee im Gesundheitswesen durch, dass manche Patienten empfindlicher sind als andere. „Das ist keine offizielle Diagnose, für uns ist das kein Thema“, heißt es etwa an der Psychologischen Hochschule in Berlin. Dort gibt es allerdings eine „Arbeitsstelle Hochbegabung“, und deren Leiter André Jacob findet klare Worte zur Hochsensibilität: „Für mich ist das ein unterkomplexer, sehr einseitiger Ansatz, der wissenschaftlich noch nicht ausreichend untersucht ist“, sagt er. Hochsensibilität und Hochbegabung solle man anders als in der Ratgeberliteratur üblich besser nicht in direkten Zusammenhang bringen.

 

Es gibt allerdings wissenschaftliche Unterstützung für Elaine Arons Thesen über Hochsensible – wie vom deutschen Biologen Max Wolf, der die Evolution mithilfe von Computersimulationen nachstellt. Demnach ist bei den unterschiedlichsten Tierarten davon auszugehen, dass einige Individuen von Natur aus besonders aufmerksam sind. „Diese Individuen können zum Beispiel Futterquellen entdecken, die anderen entgehen“, erklärt er. Das Verhalten lohne sich dem Modell zufolge aber nur, wenn nicht alle dorthin strömen, sondern nur ein Teil der Population.

 

Arons Theorie zufolge bilden die Hochsensiblen seit jeher eine „priesterliche Kaste“, die den Herrschenden und der Gesellschaft als Berater dient. Hochsensible arbeiteten Aron zufolge überdurchschnittlich oft als Schreiber, Historiker, Philosophen, Richter, Künstler, Forscher oder Theologen. Tatsächlich hat Bernhard mal katholische Theologie studiert, haderte aber damit, „dass in der Hierarchie so getan wird, als ob der Heilige Geist von oben nach unten vermittelt werden müsste. Dass er auch unten weht, wird nicht wahrgenommen, weil er da nicht vermutet wird.“

 

Unerforschtes Gebiet und Hochsensibilität-Tests

 

HSPs, so heißt es in den Ratgebern, haben generell Probleme mit Ungerechtigkeit und damit, herumkommandiert zu werden. Inzwischen ist Bernhard Laienprediger in einer evangelischen Gemeinde. Auch wenn Bernhard die Kategorie Hochsensibilität wie alle Schubladen suspekt ist, findet er sie nützlich. „Das Konzept hilft mir, mich selbst zu verstehen. Und wenn es eine Pille gegen Hochsensibilität gebe, die meisten Betroffenen würden sie nicht nehmen“, versichert er. Wie Aron betont er, dass es sich nicht um eine Krankheit, sondern um ein Persönlichkeitsmerkmal handelt.

 

Eines, das nicht leicht festzustellen ist. So dürften bei dem wohl populärsten Internettest auf zartbesaitet.net höchstens Staubmilben als unsensibel auffallen. Das kritisiert auch Hochsensiblen-Coach Anne Heintze, bei der immer wieder Leute aufgeregt anrufen: „Ich habe 300 Punkte, ich bin nicht lebensfähig.“ Heintze ist Gründerin einer „OpenMind Akademie“ in Hessen und Autorin des Ratgebers „Außergewöhnlich normal. Hochbegabt, hochsensitiv, hochsensibel: Wie Sie Ihr Potenzial erkennen und entfalten.“ Heintze sagt von sich, sie habe „mehr dieser besonderen Menschen beraten als jeder andere in Deutschland“.

 

Dass sie Hochbegabte zusammen mit Hochsensiblen und Hochsensitiven – Personen, mit einem sogenannten sechsten oder siebten Sinn – abhandelt, begründet sie mit ihrer Erfahrung: „Ich weiß, dass das wissenschaftlich nicht belegt ist. Aber von meinen Klienten waren eben viele hochbegabt und hochsensibel oder hochsensitiv zugleich.“ Die unterschiedlichen „Hoch“-Typen verbinde, dass sie sich schon als Kind wie Außerirdische fühlten. „Wenn ein Kind besonders verträumt ist, in einer Fantasie-Welt lebt, bekommt es eins aufs Dach. Insbesondere Neugierde stört den Ablauf im pädagogischen Betrieb, da ist kein Platz für ständige Warum-Fragen.“

 

Hochsensibilität ist nicht nur hinderlich

 

Auch Bernhard hat solche Fragen gestellt, wichtige Fragen wie jene, was mit der Giftschlange passiert, wenn sie sich selbst beißt. Professorchen haben sie ihn genannt. Und er hat mit seiner Art genervt, auch später, als er groß war, etwa als er in einem Heim für mehrfach Behinderte Babys wickelte. „Da hat mir eine Kollegin vorgeworfen, sie wickle drei Kinder in der Zeit, in der ich eins schaffe. Aber ich möchte doch in dem Tempo des Kindes mit dem Kind mitschwingen, damit es ein gemeinsames Tun wird. Ich bin doch kein Akkordwickler.“

 

Hochsensiblen-Coach Anne Heintze hält es für höchste Zeit, dass Betriebe die besonderen Begabungen ihrer Klienten nutzen lernen. „Die Unternehmen erkennen erst ganz langsam, welches Potenzial da schlummert“, sagt Heintze. Sie wünscht sich, dass endlich auch Schulen und Hochschulen in ihren Lehrplänen Erkenntnisse darüber verankern, wie Menschen sich in ihrer Empfindsamkeit unterscheiden.

 

Patienten werden falsch therapiert

 

Bei manchen Psychotherapeuten ist die Idee immerhin angekommen. Wie in Chemnitz bei Sabine Hein, die durch einen französischen Kinofilm auf das Thema stieß. Die Komödie „Die anonymen Romantiker“ handelt von zwei schüchternen Schokoladengourmets, die gemeinsam ihre Ängste meistern. „Danach habe ich mich mit Hochsensiblen beschäftigt und mir wurde klar, dass viele meiner Patienten dazuzählen“, sagt sie. „Und weil das bei manchen Kollegen noch nicht bekannt ist, werden Menschen noch falsch therapiert.“ So sei eine Patientin zu ihr gekommen, die zuvor in einer Tagesklinik wegen Angststörungen behandelt wurde und dort viele Verhaltensvorschriften erhielt. „Die haben sie stark gestresst – und sie damit noch stärker überreizt.“

 

Auch wenn manche sich noch hartleibig geben, Deutschland scheint so sensibel für Sensibilität wie seit der Romantik nicht mehr. Ideale Bedingungen für ein privates Outing als empfindsamer Mensch. Und wer jetzt immer noch lacht, der sollte sich noch anhören, was Elaine Aron dazu zu sagen hat: „Gerade bei Männern, die darüber Witze reißen, habe ich öfter festgestellt, dass sie selbst hochsensibel sind.“ Ach so. Bernhard ist übrigens 62 Jahre alt.

 

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